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400 m³ BSP werden für die Errichtung eines dreigeschossigen Wohnhauses benötigt © Johanna Schnaubelt

Europas größte Holzbaustelle

Ein Artikel von Johanna Schnaubelt | 28.09.2009 - 00:00
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400 m³ BSP werden für die Errichtung eines dreigeschossigen Wohnhauses benötigt © Johanna Schnaubelt

Nach dem verheerenden Erdbeben in den Abruzzen vom 6. April mit einer Stärke zwischen 6,2 und 6,4 auf der Richterskala und einer Dauer von 23 Sekunden herrscht reger Baubetrieb in den Abruzzen. Eile ist notwendig: 70.000 Menschen können nicht mehr in ihren Häusern leben, 35.000 wohnen derzeit in Zelten.
„Die Bewohner der Region wollten nach dem Erdbeben nicht in Baracken oder Container ziehen. Es sollte mit Qualität gebaut werden, lautete der Wunsch der Verantwortlichen”, erklärte Mag. Georg Binder, Geschäftsführer proHolz Austria, den Grund für eine strenge Bau-Ausschreibung. Deshalb spielten neben Zeitdauer vor allem Qualität und auch Ökologie bei der Ausschreibung eine zentrale Rolle.

Moderner Holzbau erstgereiht

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Besichtigung der Baustelle: Unternehmer, Architekten, Vertreter von proHolz und promo_legno mit Journalisten aus Österreich und Italien © Johanna Schnaubelt

Das internationale Ausschreibungsverfahren startete unter staatlicher Kontrolle durch den Zivilschutz („protezione civile”) im Mai für 150 Wohngebäude mit je 1800 m². Diese wurden für die Ausschreibung in Baulose à fünf Wohngebäuden mit je 25 bis 30 Wohnungen aufgeteilt. Ein Gebäude ist für 80 Personen vorgesehen. Das Auswahlverfahren zur Bewertung der eingereichten Konzepte erfolgte mithilfe eines Punktesystems für Realisierungszeitraum (10 Punkte), Kosten (25 Punkte), und Technik (65 Punkte). Die Punkte für Technik gliederten sich wiederum in Energieeffizienz und Nachhaltigkeit, architektonische Qualität, Innenausbau, räumliche Effizienz und Bewohnerdichte. Der moderne Holzbau erzielte 72,78 Punkte und war damit erstgereiht.
Der Baubeginn erfolgte am 11. Juli. Entsprechend den verbindlichen Vorgaben von 80 Tagen durch den als Auftraggeber fungierenden Zivilschutz sollen die Holzkonstruktionen bis zum 20. Oktober fertiggestellt werden. 16 internationale Unternehmen erhielten am 18. Juni den Zuschlag für die Umsetzung ihrer Konzepte.
Der Holzbau hat aus mehreren Gründen am besten abgeschnitten: Es handelt sich um eine schnelle und ökologische Bauweise mit guten statischen Eigenschaften. Für mehrgeschossige Wohnbauten in Holz wird Brettsperrholz (BSP) verwendet. Großflächige, lastabtragende, mehrschichtige Massivholzplatten sind als tragende Elemente eingesetzt. „Die fertigen Bauteile liefern wir direkt an die Baustelle. Die Montage übernehmen italienische Unternehmen”, führte DI Helmut Spiehs, Geschäftsführung Binderholz Bausysteme, aus. „Dieses Zusammenspiel ist ein Beispiel erfolgreicher grenzüberschreitender Kooperation in der Holzindustrie zwischen Österreich und Italien”, betonte Binder.

Bessere Aufnahme der Erdbebenwellen

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Schnelles Bauen mit Holz: Nach 16 Tagen ist das dritte Geschoss fertig und mit der Errichtung des Daches kann begonnen werden © Johanna Schnaubelt

Darüber hinaus sind die Holzbauwerke in L´Aquila durch ihre Erdbebensicherheit gekennzeichnet: Das Eigengewicht von Holz ist geringer als das anderer Baustoffe. „Da die im Erdbeben entstehenden Kräfte auf die Tragstruktur von Bauten proportional zur Masse reagieren, entstehen bei Holzbauten geringere Kräfte und Beanspruchungen”, erläuterte Univ.-Prof. Maurizio Piazza, Universität Trento. „Dadurch ist es einfacher, eine ausreichende Sicherheit gegen Einsturz oder Versagen einzelner Bauteile zu gewährleisten. Holz verfügt über große Elastizität. Im Falle eines Erdbebens wirkt sich dies positiv aus. Die Tragstruktur erlaubt eine bessere Aufnahme der Erdbebenwellen.”
„Zudem spricht für den Baustoff Holz, dass das Material vorhanden und das technische Know-how ausgereift ist”, berichtete Univ.-Prof. Wolfgang Winter, TU-Wien. „Außerdem ist der ökologische Aspekt sehr wichtig.”

Termingerechte Fertigung

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In weniger als 80 Tagen können die Wohnungen von Sistem Costruzioni schlüsselfertig übergeben werden – dank der Trockenbauweise in Holz © Johanna Schnaubelt

Die BSP-Platten werden im Werk vorgefertigt, somit können Details zur Erfüllung der Vorgaben bezüglich Statik, Brandschutz, Schallschutz bereits in der Projektphase gelöst werden. Aus diesen Gründen kann man eine kostentreue und termingerechte Ausführung garantieren. „Der Zivilschutz kontrolliert täglich die Baustelle und bei nicht rechtzeitiger Fertigstellung der Gebäude sind hohe Pönalen zu zahlen”, informierte Reinhard Binder, Geschäftsleitung Binderholz, Fügen. „Je Baulos mit fünf Wohnbauten gibt es einen Fertigstellungstermin. Bei nicht rechtzeitiger Vollendung sind 80.000 € pro Tag zu zahlen. Zusätzlich sind für die einzelnen Gebäude nochmals je 20.000 € täglich zu zahlen, wenn man in Verzug gerät.”
Binderholz-Bausysteme beliefert Sistem Costruzioni, Solignano/IT, und Gruppo Nulli, Iseo/IT, mit BSP. Insgesamt werden 18 Plattformen mit Binderholz-BSP gebaut. 400 m³ BSP werden für eine Plattform benötigt. Das Produkt muss zudem das CE-Zertifikat aufweisen. Der Zivilschutz kontrolliert nicht nur strengstens vor Ort, sondern führt auch eine Werksbesichtigung durch. Durch die ständige Überprüfung kann ein qualitativ hochwertiger Holzbau realisiert werden, erfuhr man.
„Vor allem die termingerechte Lieferung der benötigten Menge erweist sich als äußerst schwierig”, informierte Ing. Nicola Finato, Sistem Costruzioni. „Alle BSP-Produzenten in Österreich wurden kontaktiert, aber nur Binderholz garantierte die BSP-Menge und haftet mit. Somit wurde eventuell eine große Chance verpasst.”

Anti-Mafia-Zertifikat

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Der Wiederaufbau wird noch Jahre dauern, stehengebliebene Häuser werden einzeln vom Zivilschutz begutachtet und geprüft © Johanna Schnaubelt

„Bevor Binderholz-Bausysteme die Unternehmen beliefern durfte, mussten folgende Kriterien erfüllt werden: In den vergangenen drei Jahren mussten 6 Mio. € Umsatz mit dem Produkt erzielt worden sein. Dadurch kann sichergestellt werden, dass das Produkt bereits etabliert ist. Zudem müssen sowohl die Zulieferer als auch die Bauunternehmen das Anti-Mafia-Zertifikat aufweisen”, erklärte Spiehs. Um dieses Zertifikat zu erhalten, muss ein entsprechender Antrag bei der Behörde gestellt werden. Daraufhin werden alle Mitarbeiter des Unternehmens auf Verbindungen zur Mafia geprüft. „Zwei Unternehmen haben das Zertifikat auf dubiose Weise erhalten. Aus diesem Grund werden sie strengstens von den Behörden überwacht”, informierte Finato.
Insgesamt werden in den 150 Wohnbauten 3800 Wohneinheiten entstehen, 2500 bestehen aus Holz. Diese Wohnungen sollen 12.000 Menschen ein Dach über den Kopf bieten. Weiters überprüft der Zivilschutz jedes nach dem Beben stehengebliebene Haus und entscheidet, was damit passiert: Abreißen oder Restaurieren. Bislang wurden 2300 Häuser vom Zivilschutz geprüft. Jedoch wird die Überprüfung aller Häuser noch Jahre dauern. Der Zivilschutz stellt den am schlimmsten getroffenen Menschen zuerst Wohnungen zu Verfügung - vorerst umsonst.
„Es ist davon auszugehen, dass irgendwann der Zeitpunkt kommt, an dem der Zivilschutz von den Bewohner, die bleiben wollen, eine Art symbolischen Beitrag als Miete einfordert”, war Bauherr Ing. Giovanni Spatti, Gruppo Nulli, überzeugt. Andere wiederum, bei denen das Haus beschädigt ist, müssen auf die Entscheidung des Zivilschutzes warten, was mit ihren Häusern passiert. Erst dann kann etwas unternommen und können Gelder verteilt werden. Somit wird der Wiederaufbau in den Abruzzen noch Jahre dauern.

Symbol des Wiederaufbaus

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Kindergarten in Onna als Symbol des Wiederaufbaus des 500 Einwohner-Dorfes © Johanna Schnaubelt

Am 15. September wurden die ersten 96 Holzhäuser für 300 Menschen in Onna/IT, dem am schwersten zerstörten Ort, von Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi feierlich übergeben. Das verwendete Holz stammt zu 100 % aus Österreich. „Allein in Onna wurden 5,5 Mio. € für die Siedlung investiert, weitere 1,5 Mio. € für den Kindergarten und 120.000 € für eine Kirche”, berichtete Paola Bandera vom Zivilschutz. Der Kindergarten wurde von einer Studentin aus Onna entworfen, die beim Beben ums Leben kam. Ihre Mutter fand die Pläne auf ihrem Laptop, und man entschloss sich, den Kindergarten in Onna zu errichten - als Zeichen des Wiederaufbaus.
2400 € kostet im Durchschnitt der Quadratmeter Wohnfläche im Erdbebengebiet, inklusive Bau-, Erschließungs-, Infrastrukturkosten und der kompletten Einrichtung, berichten italienische Medien. „Die Holzbauten in L´Aquila sind ein Meilenstein in der österreichisch-italienischen Holzgeschichte”, freute sich Binder. „Erstmals werden in Italien mehrgeschossige Wohnbauten in dieser Größenordnung in Holz gebaut. Somit können Vorurteile gegenüber Holz, das der Werkstoff sich nicht für mediterrane Länder eignet, entkräftet werden.”
Bei der feierlichen Übergabe verkündete Berlusconi, dass die Erfahrungen, die derzeit in den Abruzzen gemacht werden, genützt werden sollen, um den Holzbau in Italien weiter zu forcieren, etwa für soziale Wohnbauten und Universitäten in zehn bis 15 anderen Städten. Wenn einmal die erste Phase des Wiederaufbaus abgeschlossen ist und Menschen in die neuen Wohnbauten eingezogen sind, folgt sicherlich eine zweite Bauphase. Denn dort, wo jetzt die Wohnbauten entstehen, fehlt es an Schulen, Kindergärten, Einkaufszentren und Infrastruktur, waren sich die Reiseteilnehmer einig. „Wenn Österreich qualitativ hochwertige Ware liefert und sowohl Termine als auch Kosten einhält, dann hat der mehrgeschossige Holzbau eine große Chance in Italien”, zeigte sich Binder zuversichtlich.