Holz – natürlich verdreht

Ein Artikel von Univ.-Prof. Dr. Rupert Wimmer | 24.01.2014 - 15:26

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Viele Menschen haben eine Vorliebe für gerade Linien und rechte Winkel. Nicht so die Natur, denn dort kommt beides nicht vor. Statt Geraden macht die Natur Kurven, Bögen und Spiralen. Wo man auch hinsieht, das Nichtlineare drängt sich auf: Meeresoberflächen, Sanddünen, Flussläufe, eine Fahne im Wind, selbst am Menschen ist nur Kurviges zu finden. Ja, selbst Lichtstrahlen scheinen nicht exakt gerade zu sein, wie Lichtkrümmungsversuche nachweisen. Auch Holz hat von Natur aus keine geraden Linien. Holzzellen sind stets leicht gekrümmt und in der Zellwand winden sich spiralförmig die Zellulose-Molekülketten. Im Baum wachsen die länglichen Holzfasern nicht parallel zur Stammachse, sondern mehr oder weniger spiralig. Fachleute nennen das den Drehwuchs. Am Rundholz lässt sich Drehwuchs an den äußeren Stammpartien oder an der Rinde meist gut erkennen. Obstbäume zeigen häufig sehr starken Drehwuchs. Man unterscheidet dabei zwischen Linksdrehwuchs und Rechtsdrehwuchs. Beim Rechtsdrehwuchs verlaufen die Holzfasern am stehenden Stamm von links unten nach rechts oben, beim Linksdrehwuchs ist es genau umgekehrt. Die Drehrichtung ist in einem Baum nicht immer gleich. Die Fichte wechselt von einer Linksdrehung in der Jugend zu einem Rechtsdrehwuchs im Alter. Das Ausmaß der Verdrehung variiert entlang der Stammachse. Bei tropischen und subtropischen Holzarten tritt Wechseldrehwuchs auf. Das heißt, Links- und Rechtsdrehwuchs wechseln sich laufend ab.

Der Drehwuchs ist genetisch programmiert und von Baumart zu Baumart unterschiedlich stark ausgeprägt. Bei Ahorn, Buche und Kiefer ist der Drehwuchs stärker, bei Birke schwächer. Fichte weist im Vergleich zur Tanne mehr Drehwuchs auf. Bekommt ein Baum mehr Raum zum Wachsen, wie nach einer Durchforstung, oder ist der Waldboden geneigt, dann ist meist auch der Drehwuchs stärker. Dickere Stämme beziehungsweise ein höheres Baumalter gehen ebenfalls Hand in Hand mit mehr Drehwuchs. Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass die Vererbbarkeit des Drehwuchses an die 70 % beträgt. Das bedeutet, dass Nachkommen ebenso drehwüchsig sind wie ihre Vorfahren, sowohl was die Stärke der Drehung, als auch die Drehrichtung betrifft. Wird ein Baum durch Wind ständig einseitig belastet und gedreht, kann ebenfalls beziehungsweise zusätzlich Drehwuchs ausgelöst werden. Drehwuchs ist also zweifach verursacht: erstens durch die Genetik und zweitens durch Umwelteinflüsse.

Welche Vorteile bringt das dem Baum? Untersuchungen belegen, dass Drehwuchs die Festigkeit des Baumstammes erhöht. Bei starkem Wind kommt es weniger leicht zum Bruch. Allerdings sollte der Baumstamm durch den Wind in die gleiche Richtung gedreht werden wie die Drehwuchs-Eigenwindung. Verdreht der Wind den Baumstamm gegen die Eigenwindung, dann kann das Bruchrisiko höher sein.

Zimmerleute oder Holzschindelmacher beurteilen die Verwendbarkeit eines Baumstammes nach der Richtung des Faserverlaufs. Sie sprechen dabei von „nachsinnig“ oder „widersinnig“ gewachsenem Holz. „Nachsinnig“ bedeutet Linksdrehwuchs, „widersinnig“ Rechtsdrehwuchs. So sollten Holzschindeln stets aus „nachsinnig“ gewachsenem Holz hergestellt werden, denn diese würden sich dann am Dach weniger werfen.

Zum Thema Drehwuchs sind öfters Einschätzungen aus der Esoterikecke zu vernehmen. Drehwuchs wird dabei meist mit Störzonen, Wasseraderkreuzungen oder Erdstrahlen in Zusammenhang gebracht. Meist selbst ernannte „Radiästheten“ erwähnen dabei gleich auch den Baumkrebs. Drehwuchs und Baumkrebs, beides Zeichen von „Störungen“? Aus Sicht der Wissenschaft ist das Fantasie. Der Drehwuchs ist ein vollkommen natürliches Wuchsmerkmal und Baumkrebs ist kein „Krebs“, sondern eine bei Pilzinfektionen ausgelöste Abwehrreaktion im Baumstamm.

Beim Schnittholz gilt starker Drehwuchs als Holzfehler. Drehwuchs-Schnittholz ist schwieriger zu bearbeiten, die Bretter werfen sich mehr, Festigkeiten sind reduziert. Was im Baumstamm noch gut war, scheint nun im Brett ein Nachteil zu sein. Die Erklärung ist einfach: Ein gerades Brett widerspricht der ursprünglichen Eigenart des Baumstammes, der ja keine Gerade kennt. Beim geraden Brett sind die Holzfasern angeschnitten und die spiralförmige Drehung der Holzfasern kann nicht mehr jene Funktion entfalten, wie das im Baumstamm der Fall war. Der Drehwuchs wird dadurch unweigerlich zum „Holzfehler“, obwohl er keiner ist. Sicher, ein gerades Holzbrett ist mit Maschinen leichter zu bearbeiten, besser zu stapeln und effizienter zu transportieren. Um aber die Eigenschaften des Holzes optimal zu nutzen, müssten Holzteile nicht linear, also dem Faserverlauf folgend, herausgeschnitten werden. Und natürlich verdrehtes Holz würde sich dann hoher Beliebtheit erfreuen!