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4 Sterne im Fußball, 5 Sterne in der Regierung – auf der Suche nach Italiens Vorzüglichkeiten  © Georg Binder

Italien

Baustellen ohne Ende

Ein Artikel von Georg Binder | 30.08.2018 - 08:26

Giarre, eine Stadt mit 30.000 Einwohnern an der Peripherie von Catania, wurde zu Italiens Hauptstadt der „Unvollendeten“ ernannt. Zwölf Betonskelette zeugen von der kommunalen Verschwendung in den vergangenen Jahrzehnten. Darunter ein Polo-Stadion, eine Arena für Theater- und Musikaufführungen, ein multifunktionales Zentrum sowie ein sozialer Mietwohnbau. 

Öffentlicher Bau blockiert

Die Nichtfertigstellungen sind nur ein Problem des öffentlichen Bauens. Baubeginne durch die öffentliche Hand haben in Sizilien Seltenheitswert. Im Vergleich zu 2007 brachen die öffentlichen Ausschreibungen um 90 %, die Bauinvestitionen um über 80 % ein, berichtet die ANCE Sicilia, die Vereinigung der sizilianischen Bauunternehmer. Die ANCE spricht von fast 500 Projekten, die mangels Finanzierung in der Warteschleife hängen. Die Bauunternehmer fordern daher dringend die Freigabe von Mitteln eines neu eingerichteten Umlauffonds von 13 Mio. € für Infrastrukturprojekte der Gemeinden. Sonst drohe die vollkommene Lähmung der Infrastruktur.

Catania für insolvent erklärt

Ende Juli hat der Rechnungshof der Region Sizilien die zweitgrößte Stadt der Insel, Catania, für insolvent erklärt. 

Die Überschuldung beträgt 1,6 Mrd. €, diese Situation ist aus Sicht des Kontrollorgans nicht mehr „tragfähig“. Schulden, die über Jahrzehnte angehäuft wurden, nur um die laufenden Ausgaben zu begleichen, nicht um die Infrastruktur zu erneuern.

Gemeinden: ein Viertel zahlungsunfähig

In Italien können Gemeinden nach geltendem Recht insolvent werden – nämlich, wenn sie unbedingt aufrechtzuerhaltende Leistungen aus eigener Kraft nicht mehr finanzieren können oder ihre Überschuldung eine Höhe erreicht, die eine Rückzahlung der Schulden unmöglich macht. In den vergangenen zwei Jahren haben in Sizilien 86 von 390 Gemeinden entweder Insolvenz erklären müssen oder stehen knapp vor der Insolvenz bzw. haben ein Ausgleichsverfahren beantragt. 

Darunter sind Städte, wie eben Catania und Messina. Die Region muss in diesen Fällen einspringen, die Finanzierung sichern und den Kommunen einen Sanierungsplan abverlangen. 

Verwaltung = Lähmung

Die Zeitungen berichten regelmäßig von untragbaren Zuständen in der Verwaltung der Hauptstadt Palermo. Für Bauangelegenheiten beispielsweise gibt es ein einziges Referat mit nur einem unbefristet angestellten technischen Leiter. Die befristeten Verträge seiner zwei Assistenten laufen Ende Oktober aus. Über 4.000 Anträge warten auf die Bearbeitung. Ende September sollen zahlreiche Stellen in der Verwaltung in einer Großausschreibung nachbesetzt werden. 

Heer der Befristeten

95 % der 2017 in Italien neu begründeten Arbeitsverhältnisse sind auf Zeit befristet. Sie werden „precarie“ genannt. Im Tourismus, der wichtigsten Verdienstmöglichkeit, arbeitet ein Heer dieser „Befristeten“ einige Monate im Sommer für jeweils 600 bis 800 €. Mit dem Verdienten ist über das ganze Jahr ein Auskommen zu finden. Trotz höherer Qualifikation gibt es nur ein befristetes Arbeitsleben als Kellner oder Putzfrau.

Würde per Dekret

Die neue Regierung versucht, mit dem „Dekret Würde“ der katastrophalen Entwicklung am Arbeitsmarkt entgegenzuwirken. Das Dekret, die erste Amtshandlung des Ministers für Arbeit und wirtschaftliche Entwicklung, Luigi Di Maio, sieht vor, dass befristete Arbeitsverhältnisse, die über zwölf Monate geschlossen werden, künftig vom Arbeitgeber begründet werden müssen. 

Die jeweiligen Abgaben für befristete Arbeitsverträge werden um 0,5 % angehoben. 

Gutschein als Lohn

Der Abgabenbonus für Neueinstellungen von Arbeitnehmern unter 25 Jahren wird bis 2021 verlängert. Für Betriebe im Tourismus und in der Landwirtschaft werden wieder „voucher“, also Gutscheine eingeführt, mit denen ältere oder junge Arbeitssuchende für zehn Tage beschäftigt und entlohnt werden.

Vorzüglicher Schutz

Bei seinem Besuch eines großen Früchteproduzenten in Catania betonte Di Maio zwei vorzügliche Leistungen der Mittelmeerinsel: Olivenöl und Orangen! Diese Produktionen müssten vor unlauterem Wettbewerb aus Tunesien und Marokko geschützt werden. Am besten mit neu zu regelnden Handelsverträgen. Der Vize-Premier versprach auch eine kräftige „Exportattacke“ für exzellente Waren und Leistungen unter der Marke „Made in Italy“ auf den wichtigsten Absatzmärkten.

Intellektuelle Verarmung

Jugendliche, die weiterdenken und es sich leisten können, verlassen die Insel. Von 150.000 gemeldeten Studenten in Sizilien studieren 40.000 im Zentrum oder Norden Italiens. Höhere Chancen auf Arbeit, ein zu restriktives Angebot an Ausbildungsplätzen und ein wenig funktionierendes Universitätssystem sprechen für sich. Der Exodus der Bildungsjugend gilt als Vorbote der intellektuellen Verarmung der Insel.

Echte Überraschung

Der Einsturz der von der Stadtbevölkerung liebevoll genannten „Ponte di Brooklyn“ in Genua kurz vor Ferragosto hat auch in Sizilien tiefe Bestürzung ausgelöst. Diese paarte sich mit verhaltener Überraschung, dass ein solches Unglück in der Hafenstadt im Norden und nicht im Süden passierte. Aufgrund der oben geschilderten „Vielfalt“ der Baustellen Siziliens eine echte Überraschung.